Quo vadis, Bio? Wie retten wir die Biobranche? – Interview mit dem Bio-Experten Jörg Kunze

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Quo vadis, Bio? Wie retten wir die Biobranche? – Interview mit dem Bio-Experten Jörg Kunze
Vor über 30 Jahren hat sich Jörg Kunze mit seinem „Holzhof“ in Gerabronn auf den Ladenbau für Biomärkte spezialisiert. Seitdem ist er deutschlandweit in Bio-Fragen unterwegs und hat die Entwicklung der Branche hautnah miterlebt. Seit 2019 betreibt er mit dem „Bio-Ritter“ in Schwäbisch Hall selbst einen Bioladen. Und wie viele Biopioniere ist auch Jörg Kunze verwundert, daß unter „grüner“ Regierungsbeteiligung ein wahres Bioladensterben eingesetzt hat: Hunderte Geschäfte mußten seit 2022 die Segel streichen. Quo vadis, Bio?

Lieber Jörg, wir haben uns ja in letzter Zeit viel über die Krise in der Biobranche unterhalten – und was man dagegen tun könnte. An eine Aussage erinnere ich mich noch sehr gut. Als die Energiepreise explodiert sind, hast du nicht lange gehadert, sondern dir einen Wasserkraftwerkbetreiber aus der Schwarzwald-Region gesucht, der über ein umfangreiches Netzwerk verfügt. Durch eine intelligente Direktvermarktung hätten alle teilnehmen Biomärkte und Großhändler ihre Mehrkosten abfedern können. Aber viele, die du kontaktiert hast, wollten nichts davon wissen. Wie kommt das?

Jörg Kunze:
Tatsächlich ist das Thema Kooperation und Vernetzung zwar bei vielen Bioladenbetreibern in den Köpfen angekommen, wird aber noch viel zu wenig umgesetzt. Da schmoren viele noch im eigenen Saft und drehen sich um sich selbst. Dadurch sind sie den Angriffen durch die Discounter und die großen Bioladenketten relativ schutzlos ausgeliefert. Es ist zu befürchten, daß einige weitere Einzelkämpfer das nicht lange durchhalten werden und vom Markt verschwinden.

Daß tut doppelt weh, da viele Bioladenbetreiber neben sehr viel Idealismus und harter Arbeit in den letzten Jahren auch einen Großteil ihrer Altersvorsorge in ihre Läden investiert haben, um diese zu retten. Sie stehen langfristig vor dem wirtschaftlichen Nichts. Viele halten deshalb noch durch, obwohl sie schon länger rote Zahlen schreiben. Zudem geht es um den Erhalt der gewachsenen Strukturen bis zu den Erzeugern, den Landwirten – das alles aufzugeben, fällt schwer.

Wie geht es deinem eigenen Laden, dem Bio-Ritter? Du hattest ja 2019 die Vision, das historische Ritter-Areal wieder mit Leben zu füllen und einen Platz der Begegnung zu schaffen, einen Marktplatz für Bioprodukte aus der Region …

Jörg Kunze:
Wir haben es im ersten Jahr geschafft, daß sich der Laden getragen hat, trotz schwieriger Lage. Auch der Bistro-Bereich ist gut angenommen worden. Dann kamen Corona und der harte Lockdown, und die Leute mußten extra wegen uns in die Stadt kommen. Da waren andere Lebensmittelgeschäfte im Außenbereich der Stadt einfacher zu erreichen – und die Leute sind dort hingegangen. Dieser Trend hat seither angehalten. Wir sind immer noch dabei, uns wieder hochzuarbeiten.

Kannst du in Zahlen ausdrücken, wieviel monatlicher Umsatz fehlt, um den Bio-Ritter erhalten zu können?

Jörg Kunze:
Was die Zahl der täglichen Kunden angeht, da sind wir – in Anbetracht der Umstände – gar nicht so unzufrieden. Allerdings sind die durchschnittlichen Einkäufe in etwa 15 % zu niedrig. Was sicher mit daran liegt, daß viele Kunden nur unsere Backabteilung besuchen oder kleine Ergänzungseinkäufe tätigen. Das bedeutet, daß wir baldmöglichst entweder um 15 % höhere Einkäufe oder ca. 20 Kunden täglich mehr benötigen, damit sich der Laden trägt. Das ist eigentlich gar nicht viel, wenn man bedenkt, daß wir deutlich höher gestartet sind – das müßte zu schaffen sein.

An der Produktqualität möchten wir keine Abstriche machen, und unser Personal ist wie eine große Familie. Mein Steuerberater drängt mich aufgrund der Zahlen, die Reißleine zu ziehen. Mein Herz jedoch sieht das große Potential, das im Bio-Ritter liegt. Daher hoffe ich, daß das Bewußtsein der Menschen sich wandelt und die natürliche Qualität der Lebensmittel wieder in den Vordergrund rückt. Und daß der Rückgang von ca. 30 % im Biobereich sich wieder dreht. Denn es hängen auch viele Landwirte am Biobereich dran, die ihre Produkte nicht mehr verkaufen können, bis hin zu Hofläden, die überproportionale Einbrüche von 30 bis zu 50 % hatten und ihre Läden schließen mußten.

Ich habe schon viel über unsere „deutschen“ Eßgewohnheiten geschrieben. Auf den Parkplätzen von Aldi und Lidl stehen oft Fahrzeuge im Wert einer Eigentumswohnung. Rüstige Rentner kaufen sich Luxuswohnmobile für einen sechststelligen Betrag, um monatelange Europa-Touren zu machen – und die Staufächer sind gefüllt mit Billig-Ravioli-Dosen zum Warmmachen. Über gesunde Ernährung wird zwar viel geredet, doch wenn uns unsere besten Freunde über ihre Lidl-Schnäppchen berichten, zeigt sich die Wirklichkeit. Nicht nur die Energiekosten sind für die Biobranche also ein Thema, sondern – wie du schon sagtest – das mangelnde Bewußtsein für die Bedürfnisse des eigenen Körpers. Du bist, was du ißt? 

Jörg Kunze:
Da triffst du den Nagel auf den Kopf. Bio wird für viele noch immer als eine Art Luxus betrachtet. Dabei ist Bio, wie der Name schon sagt, das Natürlichste auf der Welt. Wir haben uns hunderttausende von Jahren von Bioprodukten ernährt, und werden – wenn diese seltsame Zeit vorüber ist – uns wieder von Bioprodukten ernähren und sicher kopfschüttelnd zurückblicken.

Die aktuelle „Geiz ist geil“-Philosophie und die Werbekampagnen der Discounter vermitteln den Eindruck, daß billig = gut sei. Dabei ist meist das Gegenteil der Fall. Irgendjemand bezahlt immer die Zeche. Hochwertige Bioprodukte zum Discounterpreis anbieten zu können, geht nur, wenn man die Bauern ausquetscht und knebelt. Die aktuellen Bauernproteste zeigen ja, welche Schieflage in diesem System herrscht.

Kürzlich habe ich eine TV-Reportage gesehen, bei der es darum ging, welche Preise der Großhandel den Bauern für ihre Tiere bezahlt. Bei einem „Hähnchen“ lag der Preis wohl um die 49 Cent. Unfaßbar! 49 Cent für ein Lebewesen. Der Bauernverband hat sich bereits 2020 massiv darüber beschwert, daß Discounter ein ganzes „Hähnchen“ teilweise für 1,39 Euro anbieten, Schweinefleisch für 2,50 Euro pro Kilo. Es war auch die Rede davon, daß Schweine aus der Massentierhaltung nur wenige Euro „Gewinn“ einbringen. Und vieles andere mehr …

Jörg Kunze:
Ja, das hat mit Ethik und Moral unseren Mitlebewesen gegenüber nichts mehr zu tun. Und obwohl die Mißstände bekannt sind, führen sie nicht zwangsläufig zu einem Umdenken oder Umhandeln. Wir bekommen mit, daß viele unserer „überzeugten“ Biokunden seit Neuestem zum Discounter gehen, da es dort auch Bioprodukte gäbe und es zudem günstiger sei. Selbst das entspricht so nicht der Wahrheit.

Edeka, Rewe, Lidl und Aldi haben eine marktbeherrschende Stellung. 2021 blieben 85,5 % des Umsatzes mit Lebensmitteln im Einzelhandel bei diesen vier Unternehmen hängen. Laut Verbraucherzentrale hat Lidl Rekordgewinne gemacht, weil sie ihre eigenen Produkte um bis zu 70 % verteuert haben. Die Kunden ziehen daraus den Schluß, daß Bioläden in der Relation noch viel teurer geworden sein müssen und gehen erst gar nicht hin.

Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Der Biogroßhandel, unsere Kollegen und wir haben unsere Preise nur wenig anheben müssen. Dadurch sind einige Grundprodukte im Biomarkt mindestens Preisgleich und zum Teil sogar günstiger. Der Kostenunterschied, den es früher zwischen Bio- und konventionellen Lebensmitteln gab, ist definitiv zusammengeschrumpft.

Hast du da ein Beispiel?

Jörg Kunze:
Nehmen wir die Möhren: Die kosteten im Discounter 2022 im Durchschnitt 60 % mehr als im Vorjahreszeitraum. Im Biofachhandel waren es gerade einmal 2 %. Ähnlich war es bei Milchprodukten und hochwertigen Speiseölen. Wie die Verbraucherzentrale schreibt, sind die Lebensmittelpreise von Herbst 2022 bis März 2023 mit über 50 % Treiber der Inflation. Das empfinde ich als eine Unverschämtheit! Die Kunden müßten eigentlich verstärkt in die Bioläden gehen, weil wir genau die sind, die fair geblieben sind. Doch ausgerechnet bei uns ist die Kaufzurückhaltung da.  

Warum erkennen so viele Kunden das wahre Preisverhältnis nicht?

Jörg Kunze: Wir Bio-Leute sind ein bißchen naiv und bieten ehrliche Produkte an. Im konventionellen Bereich werden Schnäppchen angeboten, andere Produkte werden dafür extrem verteuert. Nach außen beworben werden natürlich nur die Schnäppchen – und so verstärkt sich das Gefühl des Kunden, er sei im Discounter generell günstiger dran. Es gibt auch Beispiele, da entsprechen die beworbenen Aktionspreise nachweislich den normalen Preisen. Oder die Preise werden je nach Kundenfrequenz hoch- oder runtergefahren, ähnlich wie an der Tankstelle.

Das alles machen wir im Biobereich nicht. Wir werben nicht mit Schnäppchen. Wir haben die wesentlich hochwertigeren Produkte, wir unterstützen die regionalen Erzeuger, wir bieten ein ganz anderes Einkaufserlebnis, und wir beschäftigen Mitarbeiter, die auch kompetent beraten können.

Nochmal zurück zu der Tatsache, daß Discounter inzwischen auch vermehrt Bioprodukte im Programm haben. Woher die immer kommen, ist ein anderes Thema. Doch springt man hier seit Längerem auf den fahrenden Biozug auf und betreibt das bekannte „Greenwashing“.

Jörg Kunze: Leider haben die Bio-Verbände wie Demeter und Bioland die Vermarktungsrechte an den konventionellen Lebensmittelhandel „verkauft“. Die Verbände bekommen dafür Lizenzgebühren. Die konventionellen Ketten bezahlen die gleichen Einkaufspreise wie wir, nehmen aber nur von bestimmten Produkten große Mengen ab. Das ist für die Hersteller problematisch, weil dadurch die Vielfalt des Angebots schrumpft und Abhängigkeiten geschaffen werden. Irgendwann können Nischenprodukte nicht mehr produziert werden.

Wenn die Bioläden verschwinden, verschwindet auch die Vielfalt der Produkte. Immer mehr kleine Hersteller kommen deshalb direkt auf uns Bioladenbetreiber zu, und wir versuchen, ihre Erzeugnisse direkt in unser Sortiment aufzunehmen, um den Absatz zu gewährleisten. Die Bio-Szene ist der Garant, daß die Biohersteller ihre sämtlichen Produkte auf dem Markt verteilen können.   

Du kaufst ja auch einiges beim Großhandel ein. Wo sitzen deine Partner?

Jörg Kunze: Unsere Großhändler sind in Baden-Württemberg beheimatet, in Vaihingen/Enz und am Bodensee. Sie fahren die Höfe ab und sammeln die Ware ein. Unser Großhandel ist also eine regionale Umverteilungsaktion. Die Bioprodukte der Discounterketten kommen dagegen von irgendwo her und haben oft weite Lieferwege zurückgelegt. Im Bio-Ritter sind sehr viele Lebensmittel erhältlich, die in den Regionen Schwäbisch Hall und Hohenlohe erzeugt werden. Und wir bauen diese Zusammenarbeit ständig weiter aus. Seit kurzem haben wir auch Alnatura Produkte mit aufgenommen, um ein günstigeres Grundsortiment bieten zu können. So bekommt der Kunde auch bei uns sogenannte Preiseinstiegsprodukte. Diese Waren sind von deutschen Herstellern. Auch Alnatura schaut darauf, die Bodenfruchtbarkeit zu gewährleisten.

Um nochmal zu den realen wirtschaftlichen Problemen vieler Familien zurückzukommen. Wenn es finanziell überall klemmt, ist dann der Bioladen überhaupt noch bezahlbar?

Jörg Kunze: Wir haben in der 80er-Jahren als junge Familie bei einer wissenschaftlichen Studie der Uni Hohenheim mitgemacht. Wir haben nur in Bioläden eingekauft und darüber ein Jahr lang genau Buch geführt. Damals waren die Bio-Lebensmittel wirklich noch sehr teuer. Das Ergebnis: Unsere monatlichen Lebensmittelkosten waren im Schnitt nicht höher als bei den Vergleichsfamilien, die nur konventionell eingekauft haben.

Die Studie hat gezeigt, daß im Bioladen viel gezielter eingekauft und so der Wegwerfeffekt eingedämmt wird. Die Produkte sind hochwertiger. Das Fleisch ist zum Beispiel nicht mit Wasser aufgedunsen, das heißt, ich brauche quantitativ weniger, um satt zu werden, und habe dabei auch noch einen besseren Geschmack. Im Discounter landet mehr im Einkaufswagen

Dann geht es auch um Lebensqualität, die sich nicht in Zahlen ausdrücken läßt. Viele Bioläden sind biozertifiziert. Das heißt, man darf keine konventionellen Lebensmittel verkaufen. Das ist eine Sicherheit für die Kunden.

Zum Abschluß nochmal zu deinem Bio-Ritter. Wie schaffen wir es nun, daß du ab sofort 15 % mehr Umsatz machst, damit uns dein wunderschöner Laden erhalten bleibt und deine Vision einer Begegnungsstätte weiterlebt?

Jörg Kunze: Das ist eine gute Frage, die sich derzeit viele Bioladenbetreiber stellen. Wir haben in den letzten drei Jahren 30 % an Umsatz verloren, haben optimiert und wie beim Strom Kosten minimiert, so daß die 15 % schon reichen, damit sich der Laden trägt. Und während die Menschen hierzulande nur ca. 11 % ihres Einkommens für ihre Nahrungsmittel ausgeben, sind es in Frankreich 15 %, in Italien 18 % und in Spanien über 20 %. Am leeren Geldbeutel kann es also nicht nur liegen.

Da wir Bioleute seit vielen Jahren Pionierarbeit leisten und daher gewohnt sind, statt Schnäppchen anzubieten, mehr auf Aufklärung und Bewußtseinsbildung zu setzen, erscheint mir das der nachhaltigste Weg. Ich kläre auf, lebe vor, denn ich möchte meinen Kindern und Enkeln eine lebenswerte Welt hinterlassen. Wenn die Menschen erkennen, welches Herzblut die Bioladenbetreiber in ihre Arbeit stecken und welche wichtige Funktion der Bioanbau hat, dann werden sie – vor allem im eigenen Interesse – der Biobranche wieder den Rücken stärken.

Man kann es ja auch aufs große Ganze übertragen: würden nur 30 – 40 % der Menschen Bio kaufen, hätten wir durch den Bioanbau mehr Bodenfruchtbarkeit, Humusaufbau statt -abbau, das CO2 bliebe gebunden im Boden, und all diese Themen, die uns umtreiben und immens viel kosten, wären durch gesundes Essen vom Tisch.  Noch ist es nicht zu spät.

Lieber Jörg, ich danke dir herzlich für deine ehrlichen Worte und wünsche dir und dem Bio-Ritter eine gesunde Zukunft.

Das Interview führte
Michael Hoppe 

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